Schauseite einer gotischen Truhe
Truhe
Inventarnummer: R.295
Material/ Maße: Eiche, bemalt; 87 x 176 cm
Ort/ Datierung: Lüneburg; um 1500
Die Fußteile der Seitenbretter zeigen je zwei gegenständige Fabeltiere. Darüber zieht sich ein Fries aus maßwerkgefüllten Spitzbogenblenden über die gesamte Front der Schauseite. Über dem Fries erheben sich drei gleichgroße Halbkreisbögen, die Maßwerk einschließen. Die Bögen sind mit Krabben besetzt und von Kreuzblumen bekrönt. Aus den Zwickeln erheben sich Fialen. Die verbleibende obere Fläche der Vorderwand ist wiederum mit Maßwerkblenden versehen. Die Truhe war rot bemalt. Kleine unbemalte Flächen und vorhandene Dübellöcher jeweils in der Mitte der drei Bögen deuten darauf hin, dass hier ursprünglich Figuren angebracht gewesen sein könnten. Sie wären den ersichtlichen Beschädigungen des Möbelstückes – wie etwa auch das Schloss – zum Opfer gefallen.
Das Dekorationssystem nimmt keine Rücksicht mehr auf die konstruktiven Gegebenheiten der Truhe mit senkrecht gestellten Seitenbrettern und waagerechtem Mittelbrett. So leitet dieses Stück von den älteren gotischen Truhen des Sammlungsbestandes zu den Renaissance-Truhen über.
Nachdem in älteren Dokumenten der Sammlungsdokumentation lediglich von einer Herkunft aus Bleckede gesprochen wurde, lässt sich die Truhenschauseite nun dem Nachlass des jüdischen Bankiers Marcus Heinemann (1819—1908) zuordnen, einem langjährigen Freund und Förderer des Museums. Dessen Vater Simon Heinemann war 1806 von Bleckede aus nach Lüneburg gezogen. Die Vorderwand der Truhe war offenbar lange Zeit als dekoratives Kunstwerk in der Diele des Heinemann-Hauses in der Großen Bäckerstraße 23 an der Wand befestigt. Sie zählte zu den Objekten, die von den Nachlassverwaltern Marcus Heinemanns im Rahmen der „Arisierung” des verbleibenden Familienvermögens im Jahr 1940 an das Museum verkauft worden sind. Der unrechtmäßige Erwerb dieser Objekte durch den Museumsverein ist Teil der systematischen Entrechtung und Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft.
Nach dem Wunsch von Marcus Heinemann und einer testamentarischen Verfügung seiner Tochter Martha von 1928 sollte die Truhenschauseite nach dem Ableben der beiden Geschwister Heinemann in das Museum kommen. Anfang 1934 änderte Martha Heinemann diese Bestimmung jedoch in einem Nachtrag zum Testament: „Der Zeit entsprechend möchte ich noch bitten, falls der Marcus Heinemann Saal einen anderen Namen erhält, das Truhenstück auf dem Flur nicht dem Museum zufallen zu lassen.” Tatsächlich wurde der Heinemann-Saal des Museums in dieser Zeit in Renaissance-Saal umbenannt. Wilhelm Reinecke gab nach dem Ableben der beiden Geschwister Heinemann an, die testamentarische Verfügung sei auf seine Bitte hin erneuert worden. In den überlieferten Unterlagen findet sich hierfür jedoch kein Nachweis.
In jedem Fall setzte sich Museumsdirektor Reinecke mit dem Erwerb der Truhenschauseite 1940 über Martha Heinemanns testamentarische Bitte von 1934 hinweg. Die noch lebenden Erben Marcus Heinemanns hatten zudem keine Gelegenheit, dem Verkauf zuzustimmen und konnten zu keiner Zeit über den gezahlten Kaufpreis verfügen. Die Truhenschauseite stellt damit im Sinne der „Gemeinsamen Erklärung” von 1999 verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut dar. Auf der Grundlage der Provenienzforschung am Museum Lüneburg konnte sie im Juli 2015 an die rechtmäßigen Erben zurückgegeben werden und befindet sich seitdem als Leihgabe der Nachfahren Marcus Heinemanns im Museum Lüneburg. In der Dauerausstellung ist sie als zentrales Objekt der Vitrine zum Thema Jüdisches Leben in Lüneburg zu sehen.
(Ulfert Tschirner/ Eckard Michael †/ Anneke de Rudder)
Literatur: Hans Schröder, Gotische Truhen, (Festblätter des Museumsvereins für das Fürstentum Lüneburg 4), Lüneburg 1932, S. 34 f., mit Abb. 15.
Der Marcus-Heinemann-Saal
Provenienzforschung am Museum Lüneburg
Vortrag Objektprovenienz und Familienforschung (Cloppenburg, März 2016)
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