Der Schwurblock aus dem Lüneburger Rathaus – Christliche Ordnung und Rechtspraxis
Museum – drinnen & draußen, Teil 1
Das Museum Lüneburg ist ein Museum für die Stadt und für die Region. Viele der darin aufbewahrten Objekte finden eine sinnvolle Ergänzung durch einen Blick auf Orte, Gebäude und Gegenstände, die sich im städtischen oder ländlichen Raum befinden. Die Serie bringt diese beiden Perspektiven an einzelnen Beispielen zusammen. Heute: Der Schwurblock aus dem Jahr 1597 und das Lüneburger Rathaus.
Ein eigentümliches Objekt, der kleine „Schwurblock“ aus dem 16. Jahrhundert – wenn er erzählen könnte, würde ein Stück Rathausgeschichte vor uns ausgebreitet werden, das von besonderen Momenten und feierlichen Anlässen handelt. Das farbig bemalte und vergoldete Objekt aus Holz und Eisen (Abb. 1) stammt aus dem Lüneburger Rathaus, vermutlich aus dem Niedergericht. Es ist eine Nachbildung des sogenannten Bürgereidkristalls von 1443, der einst zum Ratssilber gehörte und genutzt wurde, um den Bürgereid zu schwören. Unter der Inventarnummer 1874,371 befindet sich der silberne Bürgereidkristall aus dem Jahr 1443 heute im Berliner Kunstgewerbemuseum. In Lüneburg blieb die hölzerne Nachbildung mit einem wenn auch bescheideneren, aber in der Aussage ähnlichen Bildprogramm: An den beiden Längsseiten befindet sich auf der einen Seite eine Kreuzigungsszene und auf der anderen die Darstellung Christi als Weltenrichter mit der erhobenen rechten Hand, rechts und links von ihm die Engel, die zum Jüngsten Gericht blasen. Auf den schmalen Seiten sind der Heilige Georg und Johannes der Täufer zu sehen. Auf dem Dach knien zwei Engel mit zarten Gesichtern und bewachen den zwischen ihnen liegenden Holzzylinder.
Im silbernen Original befindet sich hier ein Kristall, auf den der Schwörende einst zwei Finger legen musste, um einen Eid auf die Heiligen zu schwören. In den Quellen wird er beschrieben als „eyn sulveren hilgen schryn [Heiligenschrein, H.D.] dar de borgere up to swerende pleget.“ Doch was haben weltliche Belange wie der Bürgereid mit den Heiligen zu tun?
Die sorgfältig ausgeführte Arbeit und das Bildprogramm weisen auf die Bedeutung des Schwurblocks und die mittelalterliche Rechtsauffassung hin. Unter einem Eid verstand man im Heiligen Römischen Reich die Anrufung Gottes als Zeuge der Wahrheit einer Aussage oder eines Versprechens. Bis heute kennen wir den Eid vor Gericht, mit dem man feierlich verspricht, die Wahrheit zu sagen. Im 16. Jahrhundert entstand der Amtseid, mit dem der Obrigkeit, dem Souverän, ein Instrument zur Herstellung von Loyalität an die Hand gegeben wurde.
Der Eid war ein Rechtsakt, zu dem immer eine bestimmte Formel und eine Geste gehörten: die Erhebung der Schwurhand und die Berührung heiliger Gegenstände wie zum Beispiel den Schwurblock, der als Reliquiar vermeintliche Gegenstände von Heiligen enthielt. Der „Sachsenspiegel“, das mittelalterliche Rechtsbuch Eike von Repgows, das in Lüneburg gleich in mehreren Exemplaren vorhanden war, enthielt die Anweisung, den Eid auf das Heiligtum abzulegen. Aus dem Geltungsbereich des Sachsenspiegels sind etliche Eidesreliquiare nachweisbar, vor allem in den norddeutschen Hansestädten. Die christlichen Motive auf dem Schwurblock belegen die mittelalterliche Auffassung, dass das Recht als von Gott gesetzt galt. Die Darstellungen des Jüngsten Gerichts mit Christus als Weltenherrscher hatten auch im weltlichen Bereich ihren Platz und galten als Vorbild jedes irdischen Gerichts und Mahnung zur Gerechtigkeit. Das Bildprogramm im Lüneburger Rathaus enthält gleich mehrere solcher Weltgerichtsbilder (Abb. 2), die die enge Verbindung von christlicher Ordnung und Rechtspraxis dokumentieren.
Auch nach der Reformation, die in den protestantischen Territorien den Heiligenkult zurückdrängte, blieb der Eid ein konstitutiver Akt auf allen Ebenen des städtischen Lebens. Aus dem Original des Schwurblocks, dem Bürgereidkristall, wurden in der Reformationszeit die Reliquien entfernt und stattdessen ein Neues Testament in den Kasten gelegt. Die hölzerne Nachbildung von 1597, die für gewöhnliche Eide genutzt wurde, behielt zwar die gleiche Funktion, jedoch ebenfalls ohne die durch Reliquien vermittelte Wirkung. Gestiftet haben den Schwurblock die beiden Ratsherren Georg Schomaker und Heinrich Rodewaldt, die als Richteherrn amtierten. Vielleicht wollten sie damit an einer Tradition oder Gewohnheit festhalten, um dem feierlichen Rechtsakt des Bürgereids eine angemessene Form zu bewahren.
Das Rathaus war der zentrale Ort, an dem nicht nur politische Entscheidungen getroffen wurden, sondern auch Amtshandlungen und feierliche Zeremonien, die das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen festigten. Der Schwur des Bürgereids, die Aufnahme eines neuen Bürgers, war in eine eindrucksvolle Zeremonie eingebunden, die in der Gerichtslaube vor dem Gemälde von Daniel Frese „Das Jüngste Gericht“ im Beisein der Bürgermeister und Ratsherren stattfand. Neubürger traten mit der ihrem künftigen Stand entsprechenden Ausstattung, z.B. Waffen zur Stadtverteidigung, vor den Rat und gelobten Treue und Gehorsam gegenüber dem Landesherrn und dem Rat und die Anerkennung der städtischen Gerichte.
Der regelmäßig erneuerte Bürgereid blieb bis ins 19. Jahrhundert ein wichtiges Merkmal der städtischen Verfassung und ein konstitutiver Rechtsakt auf allen Ebenen des städtischen Lebens. Die Gerichtslaube im Lüneburger Rathaus ist der älteste erhaltene Innenraum des Rathauses.
(Heike Düselder)
Prof. Dr. Heike Düselder ist die Direktorin des Museum Lüneburg.
Bildnachweis Abb. 2: Foto: Fred Dott. Das Foto wurde für die Publikation zum Lüneburger Rathaus erstellt: Uppenkamp 2014: B. Uppenkamp, Politische Ikonographie im Rathaus zu Lüneburg, in: Joachim Ganzert (Hrsg.), Das Lüneburger Rathaus 2. Ergebnisse der Untersuchung 2008 bis 2011,Beiträge zur Architektur-und Kulturgeschichte Leibniz Universität Hannover. Abteilung Bau-/Stadtgeschichte. Fakultät für Architektur und Landschaft 10.1 (Petersberg 2014) 247–353.
Serie „Museum – drinnen & draußen”, Teil 2
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