Ratten und die Pest – Täter oder Opfer?
Serie: Pest und Cholera, Teil 5
Ratten erfreuen sich in der westlichen Gesellschaft nicht gerade großer Beliebtheit. Sie gelten als Nahrungsschädlinge und Überträger von Krankheiten, bringen einem sprichwörtlich „die Pest ins Haus“. Auch wenn dies natürlich der Ratte an sich nicht im Ansatz gerecht wird und den Tieren gerade in asiatischen Kulturen eine hohe Ehrerbietung erbracht wird, soll es in diesem Artikel um den Teilaspekt der Krankheitsübertragung gehen.
In den letzten Jahrtausenden wurde die Menschheit immer wieder von Seuchen befallen, die sich weit ausbreiteten und viele Opfer forderten. Sie wurden häufig als „Pest“ bezeichnet, auch wenn man heute weiß, dass nicht immer der eigentliche Pest-Erreger, das Bakterium Yersinia pestis, dafür verantwortlich war. Für diese echten, großen und kleineren Pestepidemien sind tatsächlich Nagetiere und dort hauptsächlich Ratten mitverantwortlich. Sowohl die etwas dunklere Hausratte als auch die etwas größere Wanderratte sind als Kulturfolger an das Leben nahe den Menschen seit Jahrhunderten angepasst. Die Wanderratte erreichte Europa aber mutmaßlich erst Mitte des 18. Jahrhunderts und kommt daher als Verursacherin erst für spätere Pestausbrüche in Frage. Die Hausratte und zu einem kleinen Teil auch die Hausmaus stehen dagegen schon länger als Überträger im Fokus bei Pestausbrüchen.
Doch für Pestepidemien sind Ratten nicht alleine verantwortlich. Ein wichtiger Faktor bei der Übertragung von Pestbakterien von der Ratte auf den Menschen sind Flöhe. Je nach Region und Zeitalter sind verschiedene Floharten an den Pestübertragungen beteiligt. Dabei bedient sich das Bakterium Yersinia pestis eines perfiden Tricks: Im Vormagen der Flöhe lässt es das aufgenommene Blut verklumpen. Die Flöhe können kein neues Blut mehr aufnehmen und verhungern schließlich bei vollem Magen. In der Zwischenzeit versuchen sie weiter mit größter Anstrengung Blut zu saugen. Dadurch wird ihre Speiseröhre erweitert, so dass bei weiteren Bissen wieder Bakterien ausgestoßen werden und sie so ihren Wirt infizieren.
Interessant ist der typische Verlauf einer Pestepidemie: Infizierte Ratten geben den Erreger zunächst über Rattenflöhe unter sich weiter und sterben ebenfalls an der Pest. Während anfangs pro Ratte etwa sieben Flöhe vorkommen, steigt die Anzahl der Flöhe mit abnehmender Rattenanzahl rapide bis auf ca. 50-100 Flöhe pro Ratte an. Die Verseuchung der Ratten mit Pestbakterien erfolgt dadurch immer schneller. Nach etwa zwei Wochen ist die Rattenkolonie so stark dezimiert, dass die Flöhe kaum noch Wirte finden. Es tritt eine kurze Verschnaufpause von etwa drei Tagen ein, in denen die Flöhe keine Nahrung zu sich nehmen. Dann aber wird ihr Hunger so groß, dass sie auf Menschenblut umsteigen, eigentlich nicht ihre bevorzugte Nahrung. Infizierte Menschen sterben im Schnitt innerhalb von acht Tagen. Von der Erstinfektion einer Rattenkolonie bis zum Tod des ersten Menschen vergehen also drei bis vier Wochen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es auch Pestausbrüche gab, an denen Ratten kaum beteiligt waren, sondern der Erreger hauptsächlich über Menschenflöhe und Kleiderläuse verbreitet wurde.
Sobald Menschen infiziert sind, kann der Pesterreger nun auch auf andere Art und Weise weiter verbreitet werden: Entweder wieder über Zwischenwirte, diesmal Menschenfloh oder Kleiderlaus, oder aber direkt über Tröpfcheninfektion. Je nach Übertragungsart kommt es zu unterschiedlichen Krankheitsverläufen bei Menschen. Die Übertragung über Zwischenwirte führt zur Beulenpest, die Übertragung per Tröpfcheninfektion zur noch gefürchteteren und hoch tödlichen Lungenpest.
Es zeigt sich also, dass Ratten und letztlich auch die Flöhe selbst Opfer des Pest-Bakteriums werden. Da für Rattenflöhe erst dann Menschenblut in Frage kommt, wenn ihr Hauptwirt, die Ratte, nicht mehr in ausreichendem Maß zur Verfügung steht, ist eine reine Jagd auf Ratten bei solchen Epidemien kontraproduktiv. In vielen Teilen der Welt ist die Pest bereits ausgerottet, und bei einer frühzeitigen Erkennung kann sie mit Antibiotika gut geheilt werden. Dennoch fordert sie immer noch einige hunderte bis tausende Todesopfer pro Jahr. Als Rückzugsgebiet des Pesterregers dienen wildlebende Nagetierpopulationen. Die Menschheit wird also wohl weiterhin mit diesem Krankheitserreger, einem der ältesten der Menschheitsgeschichte, leben müssen.
(Christina Broesike)
Serie „Pest und Cholera”, Teil 6
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