Die Kanone auf dem Kalkberg
Museum – drinnen & draußen, Teil 12
In der Sammlung des Lüneburger Museums befindet sich ein mit kräftigen Deckfarben gemaltes Bild des Kalkbergs. Es handelt sich um eine Schülerzeichnung des später berühmten Geologen Otto Volger (1822–1897). Auf der Rückseite hat der Gelehrte in fortgeschrittenem Alter rückblickend notiert, das Bild im Herbst 1837 in Unterrichtsstunden bei seinem Zeichenlehrer Nikolaus Peters gemalt zu haben. Volger war damals 15 Jahre alt.
Das Bild zeigt den Kalkberg von Norden, etwa aus der Richtung des heutigen Schanzenwegs. Im Mittelgrund sind links die Wachgebäude des Neuen Tores zu sehen. Dahinter erhebt sich imposant der Kalkberg. Auf dem oberen Plateau steht rechts ein Pavillon, links erkennt man zwei Soldaten, die im Begriff sind, eine in Richtung des Betrachters aufgestellte Kanone zu zünden.
Auf genau diese Kanone stößt man noch heute, wenn man die Stufen zur Kuppe des Kalkbergs hinaufsteigt. Das eiserne Geschützrohr ist mehr als zweieinhalb Meter lang und weist eine Öffnung von gut 11 cm Durchmesser auf. Dieser Kanonentyp wird auch als Zwölfpfünder bezeichnet, weil damit 12 Pfund schwere Eisenkugeln verschossen werden konnten. Um das Geschütz abzufeuern, wurde es auf eine bewegliche Lafette gesetzt. Heute ruht das längst entschärfte Kanonenrohr unbeweglich auf einem gemauerten Sockel aus Backstein. Die Öffnung zeigt nach Osten in Richtung Altstadt.
Eine Erklärung für die Aufstellung der Kanone findet sich vor Ort nicht. Man könnte vermuten, dass es sich um eine Hinterlassenschaft der Festung und Garnison handelt, die ab 1640 von den braunschweigisch-lüneburgischen Herzögen auf dem Kalkberg errichtet wurde. Das trifft jedoch nicht zu. Zwar verfügte die Festung über zahlreiche Geschütze – nachdem der Siebenjährige Krieg (1756–1763) aber die Nutzlosigkeit der Lüneburger Verteidigungswerke erwiesen hatte, wurden alle Kanonen abgezogen. Auch die Festungsbauten der Garnison wurden ab 1783 nach und nach abgebrochen.
Tatsächlich verweist die Kanone auf einen anderen Aspekt der Geschichte des Kalkbergs: seine intensive Nutzung als Gipsbruch. Für diese harte körperliche Arbeit wurden seinerzeit auch verurteilte Verbrecher eingesetzt. Die Kettenstrafe am Lüneburger Kalkberg war Ende des 18. Jahrhunderts nach der Todesstrafe die zweithärteste Strafe im Kurfürstentum und späteren Königreich Hannover.
Unsere Kanone kam im Juli 1829 nach Lüneburg. Seit diesem Monat war die Landdrostei Lüneburg für die Gerichtsbarkeit der Kettenstrafanstalt zuständig. Um die Sicherheitsvorkehrung zu erhöhen, wurden von der Festung Harburg aus zwei Zwölfpfünder nach Lüneburg beordert und auf dem Kalkberg als Signalkanonen aufgestellt. Wenn Kettensträflingen die Flucht gelang, sollten umgehend Warnschüsse abgeben werden: drei Schüsse, wenn es sich um einen entlaufenen Verbrecher handelte, sechs Schüsse, wenn die Flucht gleich mehreren Sträflingen gelungen war.
In der dazu Ende Juli 1829 erlassenen Verordnung wurde die Bevölkerung aufgerufen, in einem solchen Fall „die besondere Aufmerksamkeit auf jedes der Entweichung aus der Karren=Anstalt verdächtigte Individuum gerichtet seyn zu lassen, und, ein jeder in seinem Verhältnisse, zur Entdeckung und Wiederergreifung der entsprungenen Verbrecher möglichst beizutragen und mitzuwirken“.
Ausbrüche aus der Strafanstalt waren ein seltenes Ereignis und man kann sich vorstellen, wie die plötzlich in den Alltag hineinbrechenden Kanonenschläge, die weit ins Umland zu hören waren, auf die Menschen gewirkt haben mag. Bei vielen werden Ängste und Sorgen überwogen haben, bei manchen aber auch andere Interessen – denn auf die Ergreifung entwichener Verbrecher war eine stattliche Belohnung von 10 Reichstalern ausgesetzt.
Ein solches Ausnahmeereignis dürfte auch die Lüneburger Jugend beeindruckt haben. Vielleicht hat der junge Otto Volger deshalb den Moment des Signalschusses im Hintergrund seines Schülerbildes festgehalten.
Die Kettenstrafanstalt wurde nach dem Ende des Königreichs Hannover 1866 unter preußischer Verwaltung bald abgeschafft. Die beiden Signalkanonen verloren damit ihre Funktion. In den 1870-er Jahren gab die Landesregierung sie als Alteisen zum Verkauf frei.
Eine Kanone ließ der Käufer, ein Lüneburger Eisenwarenhändler, mit vielen Helfern der Freiwilligen Turnerfeuerwehr vom Kalkberg schaffen. Sie stand danach jahrzehntelang auf einem Grundstück am Altenbrücker Damm und soll sich auch heute noch – außerhalb Lüneburgs – in Privatbesitz befinden.
Die zweite Kanone (die ursprünglich nach Norden gerichtet war), blieb auf dem Kalkberg zurück. Auf einem verrottenden Balken liegend, bot sie Ende des 19. Jahrhunderts ein trauriges Bild. Einer Anregung des Museumsvereins folgend wurde 1906 der steinerne Sockel aufgemauert, auf dem sie seitdem ruht – und manchen heutigen Besuchern des Lüneburger Kalkbergs Rätsel aufgibt.
(Ulfert Tschirner)
Dr. Ulfert Tschirner ist stellvertretender Museumsleiter und Kurator der kulturgeschichtlichen Sammlungen.