Unter die Haut geritzt – Pilgertätowierungen aus Jerusalem
Pilger-Exponate, Teil 6
Aus Santiago de Compostela bringen die Pilger die Jakobsmuschel als Beweis für ihre Fernwallfahrt zum Grab des Heiligen Jakobus des Älteren mit. In Rom ist das Pilgerzeichen mit dem „wahren Antlitz Christi“ (Vera Icon) verbreitet sowie das sogenannte Agnus Dei, ein vom Papst geweihtes Wachsplättchen mit einem Relief, das das Lamm Gottes zeigt. Ein besonderes Pilgerzeichen jedoch gibt es in Jerusalem: Seit dem 16. Jahrhundert belegen Quellen, dass es in Jerusalem eine Tätowierwerkstatt gab, die von Pilgern aufgesucht wurde, um sich als Zeichen ihrer Pilgerfahrt tätowieren zu lassen.
In der Altstadt Jerusalems, in einer kleinen Gasse gleich hinter dem Jaffator, gibt es bis heute das Tattoo-Studio von Wassim Razzouk. Auch wenn die Eigenwerbung für eine siebenhundert Jahre währende Firmengeschichte vielleicht etwas übertrieben erscheint, so führt die Familie von Wassim Razzouk doch eine Jahrhunderte alte Tradition fort, für die der Geschäftsslogan „Tattoo with heritage“ steht. Seine Vorfahren kommen als Kopten, Anhänger der altorientalischen Kirche Ägyptens, im 18. Jahrhundert von Oberägypten nach Jerusalem. Bis heute sind in der kleinen Werkstatt noch die Stempel aus Olivenholz vorhanden, mit deren Hilfe sich das zu tätowierende Motiv als Vorzeichnung rasch auf die Haut aufbringen ließ.
Die Tätowierung ist die komplizierteste Art, den Körper zu markieren. Bis zur Erfindung der elektrischen Tätowiermaschine benutzt man scharfe Nadeln, die die Haut punktieren, die oberste Hautschicht öffnen und in den Umrissen eines Musters blutig verletzen. Die offenen Poren werden mit einer Mixtur aus Ruß, Öl und Ochsengalle eingerieben und die markierte Stelle fest umwickelt. So dringt die Flüssigkeit durch die geöffneten Poren in die untere Hautschicht ein.
Die Pilgertätowierung ist im Orient schon in der Antike bekannt, nördlich der Alpen bleibt diese Form der Körpermarkierung bis ins Mittelalter unbekannt. Als die ersten christlichen Pilger nach Jerusalem kommen, stoßen sie hier auf eine Bevölkerung mit uralter Tätowiertradition. Zunächst sind es Palmenzweige, auf das Gewand genähte Kreuze oder Kreuze, die auf den Schultern vernarbt bzw. gebrandmarkt waren, die die Jerusalempilger, auch „palmieri“ genannt, kennzeichnen. Ab dem 16. Jahrhundert kommen tätowierte Kreuze hinzu. Als bislang frühester Bericht für die Pilgertätowierung eines Europäers gilt der Bericht des Alexander von Pappenheim 1563/64.
Jerusalem gehört zu den drei bedeutendsten Fernwallfahrtszielen. Schon im 4. Jahrhundert werden die Stätten des Lebens und Leidens Christi im Heiligen Land zum Reiseziel von Gläubigen. Zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert sind es die Kreuzfahrer, die sich mit dem Zeichen des Kreuzes zu einer bewaffneten Pilgerreise in den Kampf gegen die muslimischen Eroberer im Nahen Osten aufmachen. Seit 693 steht Jerusalem unter muslimischer Herrschaft, im Jahr 1009 wird die Grabeskirche, eines der größten Heiligtümer des Christentums, zerstört. Kaiser und Päpste rufen zur Verteidigung des Christentums und zur Rückeroberung der Heiligen Stätten auf. Viele Kreuzritter sind davon überzeugt, dass sie mit der Vertreibung der Muslime aus dem Heiligen Land Gottes Wille erfüllen und versprechen sich einen Sündenablass von ihren Taten. Der gewaltsamen Eroberung Jerusalems im Jahr 1099 folgt knapp anderthalb Jahrhunderte später, 1244 , der Rückfall an die muslimischen Machthaber. Die wechselvolle Geschichte Jerusalems hat zur Folge, dass diese Stadt bis heute für Juden, Christen und Muslime eine heilige Stadt, aber auch einer der Brennpunkte des Nahostkonflikts ist.
Im späten Mittelalter wird Jerusalem als Fernwallfahrtsziel populär. Die Reise ist aufwändig, gefährlich und vor allem teuer. Daher beschränkt sich der Kreis der Jerusalemfahrer auf eine kleine Gruppe finanzkräftiger Personen: hochgestellte Kleriker, wohlhabende Patrizier und vor allem Adlige. Den Höhepunkt der spätmittelalterlichen Jerusalemfahrt stellt der Empfang der ‚Ritterwürde‘ am Heiligen Grab dar, die zunächst nur Adligen, um 1500 aber auch anderen Gruppen verliehen wurde und ihnen gestattete, den Titel ‚Ritter‘ und das Jerusalemkreuz im Wappen zu tragen.
Mit der Übernahme der Herrschaft durch die Osmanen 1517 wird das Pilgerwesen aus Europa neu organisiert. Es sind die in Jerusalem ansässigen Franziskaner, die ein Betreuungsmonopol für die europäischen Pilger aufbauen. Sie stellen den Pilgern ihre Mitarbeiter, die Dragomane, zur Verfügung. Dies sind einheimische Christen, zumeist zum katholischen Glauben übergetretene griechisch-orthodoxe Einwohner Bethlehems, die den Italienisch sprechenden Franziskanern als Übersetzer dienten und zugleich über Tätowierkünste verfügen. Diese bieten sie den Pilgern an, um ihr Einkommen aufzubessern. Populär sind besonders drei Motive: das Jerusalemkreuz sowie Bethlehem-Motive wie die drei Sterne und die Kreuzigung. Die Tätowierer arbeiten mobil, sie kommen in die Pilgerherbergen oder warten an den häufig besuchten Pilgerstätten auf ihre Kundschaft. Im 18. Jahrhundert verlagert sich die Tätowierpraxis von Bethlehem nach Jerusalem. Nun sind es nicht mehr die Dragomane, sondern vor allem Armenier und Kopten wie die heute noch in Jerusalem ansässige Familie Razzouk, die das Gewerbe übernehmen.
Übrigens befördern die Franziskaner in Bethlehem und Jerusalem noch ein weiteres Gewerbe, nämlich die Herstellung von kleinen Holzmodellen der Heiligen Stätten, die von den Jerusalem-Pilgern gerne als Souvenir mitgebracht werden.
Abbildung: Ratge Stubbes Pilgertätowierung (Johannes Lundius: Die alten jüdischen Heiligthümer, Gottesdienste und Gewohnheiten […], mit dem Kupferstich des Hans Martin Winterstein, Hamburg, 1704, Stadtbibliothek Braunschweig)
(Heike Düselder)