Der Fluch des Mutterkorns
Serie: Pest und Cholera, Teil 3
Diesmal geht es um das rätselhafte Antoniusfeuer, das man in Mittelalter für eine ansteckende Krankheit und eine Strafe Gottes hielt.
Die Krankheit kündigte sich in den Gliedmaßen mit einem starken Kribbeln wie von Ameisen oder einem Brennen wie Feuer an. In der Folge starb das Gewebe durch eine extreme Verengung der Gefäße ab: Zehen und Finger, Hände und Füße verfärbten sich schwarz und mussten amputiert werden, wenn sie nicht sogar von alleine abfielen. Das „Heilige Feuer“ war mit starken Schmerzen und Halluzinationen verbunden. Wer es überlebte, war für sein Leben gezeichnet. Durch den Verlust der Gliedmaße beeinträchtigt, konnten die Betroffenen später keinem Erwerb mehr nachgehen und waren gezwungen, ihr Leben als Bettler zu verbringen.
Daraus ergibt sich die Verbindung zu dem Holzrelief des Lüneburger Museums. Es zeigt die „Heilung eines Krüppels“ durch die Heilige Elisabeth von Thüringen. Entstanden ist das Relief 1512 für einen Altar im Lüneburger Kloster Heiligenthal. Als Schutzpatronin der Mildtätigkeit hat man die Heilige auch hierzulande bei verschiedenen Gebrechen um Trost und Heilung angerufen. Begleitet von einer Dienerin ist Elisabeth zu sehen, die an einen vor ihr knienden Mann herantritt. Segnend legt sie ihm die rechte Hand auf das Haar. Dem Mann fehlen die Füße. Der abgewinkelte Unterschenkel endet in einem Stumpf und ist an eine Holzstütze gebunden, mit der er über den Boden rutschen kann.
Diese häufig auf das Antoniusfeuer zurückzuführende Form der Behinderung wurde in der abendländischen Kunst oft dargestellt. Bettler mit verkrüppelten Unterschenkeln begleiten als Attribut der Heiligen in vielen Fällen die Figur der Heiligen Elisabeth. Sie ist die Schutzpatronin der Mildtätigkeit. Der zeitgenössische Name der Erkrankung geht aber auf den Heiligen Antonius zurück. Ein ihm geweihter Orden, die Antoniter, widmeten sich der Pflege der so Erkrankten.
Aus heutiger Sicht ist das Antoniusfeuer allerdings gar keine Infektionskrankheit, sondern Folge einer Vergiftung. Die Betroffenen hatten Getreide zu sich genommen, das mit einem auf Roggenähren schmarotzenden Schlauchpilz verunreinigt war, dem sogenannten Mutterkorn. Da Roggen das Brotgetreide der einfachen Bevölkerung war und der Anteil an Mutterkorn in der Ernte unter bestimmten Witterungsbedingungen zunahm, kam es immer wieder zu lokalen Massenvergiftungen. Der wissenschaftliche Name dafür lautet Ergotismus.
Es dauerte noch bis ins späte 18. Jahrhundert, bis sich der Zusammenhang zwischen dem Mutterkorn und den unterschiedlichen Symptomen der Vergiftung endgültig nachweisen ließ. Dazu trug eine Ergotismus-Epidemie bei, die 1770/71 im Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg in der Nähe der Stadt Celle wütete. Bei dieser Spielart der Vergiftung ging das Gefühl des Kribbelns in heftige Krampfanfälle über, die oft tödlich endeten. Der Landarzt Johann Daniel Taube ging mit detektivischem Spürsinn an die damals „Kriebelkrankheit“ genannte Seuche heran. Er ließ Leichen obduzieren, führte chemische Analysen durch, protokollierte akribisch die Reaktionen der Patienten auf verabreichte Medikamente – und konnte schließlich nachweisen, dass in allen Fällen der Verzehr der mit Mutterkorn verdorbenen Ernte ursächlich für die Symptome war. Diese Erkenntnis musste sich aber zunächst erst gegen die religiösen Deutungsmuster und den Aberglauben behaupten. Die Bauern, die Taube über die Ursachen aufklärte, waren eher bereit zu glauben, dass die Krankheit eine göttliche Strafe sei, als dass sie akzeptieren wollten, dass der Grund des Übels in ihrem lieben Getreide zu finden sei.
(Dr. Ulfert Tschirner)
Serie „Pest und Cholera”, Teil 4
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